Rassismus und Polizeigewalt in Almería – Der Fall Hamid M.
1. Der Fall Hamid M.
Am Freitag den 17.März 2017 um kurz vor zwei Uhr nachmittags, fuhren zwei Polizisten der Guardia Civil zum Haus von Hamid M. in San Isidro de Nijar, 30 Kilometer östlich von Almería. Dessen Tochter hatte den Notarzt angerufen, nachdem ihr an Parkinson erkrankter Vater am Morgen seine Tabletten falsch dosiert hatte und infolgedessen einen Anfall bekam. Der 52-jährige Marokkaner hat eine lange und im Ort bekannte Krankheitsgeschichte. Immer wieder verlor er aufgrund seiner Krankheit und hinzukommenden psychischen Problemen die Kontrolle über sein Verhalten. Seine Familie bemühte sich seit längerem um einen Platz in einer geeigneten Betreuungseinrichtung. Der Notdienst schickte aber zunächst keinen Krankenwagen, sondern einen Streifenwagen der Guardia Civil, da sie aufgrund von Schreien Hamid M.‘s, welche während des kurzen Telefonats im Hintergrund zu hören waren, von einer Situation innerfamiliärer Gewalt ausgingen. Kurz darauf war Hamid M. tot.
Was genau vor dem kleinen Reihenhaus der Familie M. geschah, ist bis dato noch nicht geklärt. Vieles ist im Dunkeln und wird sich hoffentlich in den nächsten Tagen und Wochen aufklären. Ein polizeiliches Ermittlungsverfahren ist im Gange und der Körper von Hamid M. wird einer Autopsie unterzogen werden. Dennoch ist es nötig, sich bereits jetzt zivilgesellschaftlich intensiv mit dem Fall auseinanderzusetzen. Denn noch am Nachmittag des 17.März kursierten in verschiedenen Zeitungen wie „La Voz de Almería“ oder „Ideal“ Versionen des Vorfalls, welche den Schilderungen von Augenzeugen und Angehörigen widersprechen.
Zudem gibt das Vorgehen der Polizeikräfte in verschiedenen Punkten Anlass zu Zweifeln an der Angemessenheit und Rechtmäßigkeit des Vorgehens. Außerdem steht das polizeiliche Verhalten im Fall von Hamid M. aus der Sicht vieler Migrant*innen in einer langen Reihe von Polizeigewalt, willkürlicher Behandlung und struktureller Benachteiligung in der Gegend um Almería. Und nicht zuletzt zeigen die Erfahrungen aus vorherigen ähnlich gelagerten Fällen, dass die Polizei häufig geneigt ist, eigenes Fehlverhalten zu rechtfertigen und auf der Angemessenheit des eigenen Vorgehens zu beharren.
2. Zeugen- und Angehörigenberichte vom 17. März
So schilderten Augenzeugen das Vorgehen der Polizei als unverhältnismäßig. Als die zwei Polizisten der Guardia Civil zur Tür der Familie M. gelangten, sei Hamid M. nach einem mehrminütigen Wortgefecht und Versuchen der Polizei ihn festzunehmen aus der Tür auf den Bürgersteig getreten und dabei hingefallen. Daraufhin hätten sich die Polizisten auf dessen Rücken gesetzt und versucht ihm Handschellen anzulegen. Dies sei zunächst nur bei einem Arm gelungen, woraufhin es zu Zwangseinwirkungen auf Hamid M. kam. Insbesondere habe ein Polizist seinen Fuß in den Nacken von Hamid M. gedrückt. Laut den Augenzeugen begann Hamid M. infolge dieser Einwirkung stark aus dem Mund zu bluten. Schließlich merkten die Polizisten, dass Hamid M. sich nicht mehr bewegte. Nach Angaben der Tochter von Hamid M. versuchte sie, sowie ihre Mutter und ein Nachbar der Familie, während dieser ganzen Zeit den Polizisten verständlich zu machen, dass Hamid M. unter schweren gesundheitlichen Problemen litt und eine solch schwerwiegende Einwirkung auf diesen fatale Folgen haben könnte. Nachdem die Polizei vom nunmehr leblosen Körper von Hamid M. abließ und schließlich der ursprünglich angeforderte Krankenwagen eintraf, entfernten sich die zwei Polizisten vom Ort des Geschehens und wurden von zwei Kollegen abgelöst. Jegliche Reanimierungsversuche, die nach Angaben des Sohnes von Hamid M. erst nach Eintreffen des Krankenwagens eingeleitet wurden, scheiterten. Als besonders erniedrigend empfand die Familie den Umstand, dass die Polizisten nicht sofort versuchten Hamid M. zu reanimieren.
Zudem berichteten Angehörige des Opfers, dass die Polizei zwei Personen, die die Vorgänge mit ihren Mobiltelefonen filmten, diese abnahm, um die gemachten Aufnahmen zu löschen. Die noch am selben Tag veröffentlichten Presseberichte unterscheiden sich in verschiedenen Aspekten grundlegend von den Berichten der Familie M. und den Augenzeugen. Einhellig wird vom Grund des Erscheinens der Polizei von „Violencia Machista“ (genderspezifischer Gewalt) von Hamid M. gegenüber seiner Frau gesprochen. Jedoch verneinte die Familie M., einschließlich der Ehefrau von Hamid M., dass es von Seiten des Verstorbenen zu gewalttätigen Handlungen gekommen sei. So habe es zwar Probleme aufgrund der Krankheit gegeben und das Verhalten von Hamid M. sei infolge von Anfällen immer wieder unberechenbar gewesen. Jegliche Berichte über innerfamiliäre Gewalt gegenüber seiner Frau wurden allerdings aufs Schärfste zurückgewiesen.
Auch wird berichtet, dass der Sohn von Hamid M. die Polizei gerufen habe. Dieser verneinte dies jedoch und verwies darauf, zum fraglichen Zeitpunkt noch in der Arbeit bzw. anschließend bei einer Freundin gewesen zu sein. Vielmehr rief die Tochter nach eigenen Angaben den Notarzt, damit dieser ihrem Vater helfe. Des weiteren legten ersten Medienberichte nahe, dass es sich bei der Todesursache um einen Herzinfarkt handele. Die Familie verurteilte diese voreiligen Schlüsse, bevor es zu einer gerichtsmedizinischen Untersuchung des Körpers gekommen ist. Zudem bemängelte die Familie, dass bei Fernsehbeiträgen die Interviews von Zeug*innen an den Stellen geschnitten wurden, an denen die Polizei belastet wurde.
3. Reaktion der migrantischen Community
In den Stunden nach dem Vorfall verbreitete sich die Nachricht vom Tod des 52-Jährigen rasend schnell in San Isidro. Schon um 17 Uhr kamen mehrere Hundert Migrant*innen zusammen auf der Hauptstraße des kleinen Ortes zusammen, um Aufklärung und Gerechtigkeit zu fordern. Ohne Erlaubnis zogen sie vom zentralen Platz von San Isidro mehrmals durch den Ort, um ihre Demonstration schließlich vor dem Haus von Hamid M. zu beenden. Die aufgebrachten Menschen riefen „No al racismo!“ (Nein zum Rassismus!) und „Queremos justicia!“ (Wir wollen Gerechtigkeit!). Die Guardia Civil war zwar während der etwa zweistündigen Aktion präsent, schritt aber nicht ein.
Am Sonntag den 19. März fanden sich mehr als 800 Menschen vor dem Haus von Hamid M. ein, um gemeinsam zu trauern, der Familie zur Seite zu stehen und ihre Wut angesichts des Todes von Hamid M. und der strukturellen Diskriminierung der migrantischen Bevölkerung von San Isidro auszudrücken. Auf großen Plakaten forderten sie Gerechtigkeit, ein Ende von Rassimus und Gewalt und ein friedliches und auf gegenseitigem Respekt beruhendes Zusammenleben von Spanier*innen und Migrant*innen. Angehörige und Freunde von Hamid M. sprachen zu der Menge und forderten die Ermittlungsbehörden zur sorgfältigen und vorurteilsfreien Untersuchung des Todesfalles auf.
In den Redebeiträgen wurde klar, dass sich für die migrantische Gemeinschaft im Fall Hamid M. ein strukturelles Problem spiegelt. Tagtäglich erfahren sie Benachteiligung und Ausgrenzung aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihrer Religion. Vor allem in Kontakt mit staatlichen Stellen, und insbesondere mit der Polizei, erleben die Menschen Willkür und Erniedrigung. Einhellig riefen sie: „Wir sind Menschen, keine Tiere!“.
Diese starke Reaktion der migrantischen Zivilgesellschaft und das bewusste Suchen der Öffentlichkeit durch Angehörige und Zeug*innen hat mittlerweile dazu geführt, dass erste Medienorgane ihre Darstellungen vom letzten Freitag korrigiert haben und nunmehr die oben aufgeführten Augenzeugen- und Angehörigenberichte berücksichtigt werden. Weiterer sozialer Druck und die aufmerksame Beobachtung des weiteren polizeilichen Vorgehens ist unbedingt nötig, um sicherzustellen, dass die Hintergründe des Todes von Hamid M. vollständig aufgeklärt werden.
4. Polizeigewalt in Almería
Die Wut und Empörung der Migrant*innen erklärt sich aus der Geschichte von polizeilicher Gewalt und Willkür. Immer wieder überschreitet die Guardia Civil und die lokale Polizei im Kontakt mit Migrant*innen die Grenzen der Angemessenheit und der Verhältnismäßigkeit. Das Verhältnis zwischen der migrantischen Bevölkerung in Almería und Umgebung ist von Misstrauen, Angst und Ablehnung geprägt.
Im Laufe der letzten Jahre gab es immer wieder Fälle, welche diesen strukturellen Missstand ans Licht der Öffentlichkeit trugen. So werfen viele Migrant*innen der spanischen Polizei bis heute vor, während der rassistischen Ausschreitungen im Februar 2000 nicht ausreichend eingegriffen zu haben, um Migrant*innen vor Angriffen zu schützen.
Auch kam es nach gewaltsamen Todesfällen von Migrant*innen immer wieder zu Vorwürfen der mangelnden Aufklärungsarbeit durch die spanische Polizei – zuletzt im Dezember 2015 als ein Mann aus Guinea-Bissau in El Ejido getötet wurde und es im Anschluss zu Ausschreitungen kam. Doch die strukturelle Gewalt gegenüber der migrantischen Bevölkerung manifestiert sich auch im alltäglichen Leben tausendfach – Racial Profiling, unverhältnismäßige Kontrollen, herablassende Behandlung durch Polizist*innen und die Erschwerung des Zugangs zum Rechtsweg gehören zu konstanten Erfahrungen von Migrant*innen in Almería.
5. Nein zum Rassimus! Wir wollen Gerechtigkeit!
Seit 2013 beschäftigt sich Interbrigadas e.V. mit der Situation migrantischer Arbeiter*innen in der Landwirtschaft rundum Almería, Spanien. Derzeit befindet sich die nunmehr dritte Brigade namens „Berta Cáceres“ vor Ort, um die Arbeit der lokalen Landarbeiter*innengewerkschaft SOC-SAT in ihrem Kampf gegen Ausbeutung und Diskriminierung zu unterstützen.
In dieser Zeit haben wir die schwierige Situation der Migrant*innen, die Ausbeutung, Ausgrenzung und strukturelle Diskriminierung kennengelernt. Unsere Arbeit zielt darauf ab, durch internationalistische Vernetzung und transnationale Kooperation mit Akteuren vor Ort die Strukturen des Status Quo der Ausbeutung und des Rassimus anzugreifen. In den verbleibenden zwei Wochen der aktuellen Brigade und darüber hinaus werden wir den Fall Hamid M. und die Situation der strukturellen Diskriminierung von Migrant*innen durch staatliche Stellen weiter kritisch begleiten.
Hiermit wollen wir der Familie von Hamid M. unser tiefempfundenes Mitgefühl aussprechen. Wir hoffen sehr, dass die große Unterstützung aus der migrantischen Gemeinschaft ihnen in dieser schweren Zeit hilft und ihnen Stärke gibt. Wir fordern den spanischen Staat und die zuständigen Ermittlungsbehörden zu einer sorgfältigen, ausführlichen und vorurteilsfreien Untersuchung des Vorfalls vom 17. März auf.
Wir fordern den marokkanischen Konsul und die Auslandsvertretungen des Königreichs Marokko dazu auf, ihren Landsleuten in Spanien die notwendige Unterstützung zu leisten. Es ist Zeit, die Selbstorganisierung von Migrant*innen solidarisch und tatkräftig zu unterstützen und staatliches Unrecht gegenüber Minderheiten nicht weiter hinzunehmen. Rassistischer Ausgrenzung, polizeilicher Willkür und der Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen muss entschieden und organisiert entgegengetreten werden. Nur so ist es möglich ein offenes, gerechtes und solidarisches Europa für alle und von unten zu errichten.
Wir werden weiter an der Seite selbstorganisierter Migrant*innen kämpfen – Nein zum Rassimus! Wir wollen Gerechtigkeit!
Interbrigadas e.V., Brigade Berta Cáceres